In den vergangenen zwei Jahren sind dank weiterer wissenschaftlicher Aufarbeitungsberichte neue Erkenntnisse zur Ermöglichung, Begünstigung und Rechtfertigung von sexueller/sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeitsbeziehungen in pädagogischen Kontexten veröffentlicht worden. Für die Sexualpädagogik als Disziplin und Profession ergeben sich daraus bedeutsame Kritikpunkte und Reflexionsmöglichkeiten. Die Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp) hat sich deshalb entschieden, die Bedeutung sexualpädagogischer Diskurse für die Rechtfertigung von sexueller/sexualisierter Gewalt und der Verstrickung sexualpädagogischer Akteur*innen in gewaltbegünstigende und ermöglichende Kontexte aufzuarbeiten.
Aus dem aktuellen Forschungsstand hervorzuheben sind insbesondere
- der zweite Hildesheimer Ergebnisbericht zu „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ (Baader et al. 2024),
- der von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) in Auftrag gegebene Bericht zu ihrer „Rolle in der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch pädagogische Professionelle“ (Amesberger & Halbmayr 2022; von der DGfE im Juni 2023 veröffentlicht),
- die Auseinandersetzungen im Heft Nr. 68 der „Erziehungswissenschaft“ (Kleinau & Tervooren 2024),
- sowie die Vorstudie zur „Bedeutung von sexualpädagogischen Vorstellungen für die strukturelle Begünstigung von sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche“ (Windheuser & Buchholz 2023).
Neben der Benennung konkreter Vergehen, dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch einzelne Personen, rückt die Frage nach struktureller und institutioneller Ermöglichung von sexueller/sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten ins Zentrum. Untersucht werden die Beteiligung erweiterter Netzwerke unter Einbindung einzelner Jugendhilfeträger, Jugendämter und Hochschulabteilungen, das Ignorieren von Hinweisen und Kritik sowie die Bedeutung von Fachdiskursen der 1970er bis 2000er Jahre, die sexuelle/sexualisierte Gewalt verschwiegen, bagatellisiert oder legitimiert haben.
Die gsp begrüßt ausdrücklich die genannten Fortschritte in der Aufarbeitungsforschung sowie die sich daran anschließenden, auch kritischen Auseinandersetzungen. Sie stellt sich entschieden gegen eine Diffamierung der daran beteiligten Forscher*innen, wie sie sich in Reaktion auf die Veröffentlichung des letzten Hildesheimer Forschungsberichts zum Teil zugetragen hat. Selbstkritisch muss die gsp festhalten, dass sich ihre eigenen internen und zögerlich einsetzenden Aufarbeitungsbemühungen bislang vornehmlich auf die Person Helmut Kentlers und dessen Wirken fokussierten (vgl. FAQ zu Helmut Kentler Stand 27.03.2023; siehe auch „Symposium über Helmut Kentler“ der Sektion Geschichte am 05.03.2020 in Frankfurt/Main) und kaum größere Zusammenhänge und mögliche darüber hinausreichende Verbindungen in den Blick genommen haben. In der Folge wurde von externen Akteur*innen das Anliegen an die gsp herangetragen, ihre Aufarbeitungsbemühungen zu erweitern. Auch vereinsintern gab es in den letzten Jahren Bestrebungen, sich umfassender mit Aufarbeitung zu beschäftigen. Auf dem Symposium in Frankfurt/Main wurde eine Auseinandersetzung mit den historischen Begründungen einer neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik und ihrem Sexualitätsverständnis initiiert. Dabei wurde auch der Begriff neo-emanzipatorisch selbst kritisch reflektiert.
An die aktuellen Forschungsergebnisse, die Aufforderungen und Initiativen von Vorständen und Mitgliedern der gsp anschließend, hat sich auf der letzten Mitgliederversammlung am 14.09.2024 in Duisburg eine Arbeitsgruppe aus gsp-Mitgliedern und Vertreter*innen des Vorstands gegründet, um eine erweiterte Aufarbeitung auf den Weg zu bringen. Derzeit wird über Form, inhaltliche Ausrichtung und Möglichkeiten der Umsetzung beraten, die eine Beteiligung von Betroffenen(verbänden), unabhängigen Wissenschaftler*innen und Fachkolleg*innen vorsieht. Der Fokus liegt auf einer möglichen (Mit-)Verantwortung für eine Initiierung, Legitimierung und Vertuschung sexueller/sexualisierter Gewalt durch die gsp und ihrer Rolle, die sie als 1998 gegründete Fachgesellschaft für die Begründung sexualpädagogischer Theorie- und Praxisräume spielte und spielt. Ziel ist es, einen unabhängigen Beirat zu schaffen und eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag zu geben. Damit möchte die gsp zu einer sexualpädagogischen Fachlichkeit beitragen, die von einem informierten und reflektierenden Verhältnis zur eigenen Geschichte getragen ist. Anknüpfend an den Stand der bisherigen Aufarbeitungsforschung sind für die gsp relevante Fragestellungen unter anderem:
- Inwiefern bestanden und bestehen Begründungs- und Legitimationszusammenhänge von sexualisierter/sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in sexualpädagogischen Debattenräumen, Publikationsorganen und Verbandsstrukturen?
- Welche Bedeutung kommt dem bisherigen, gsp-internen Aufarbeitungsprozess zu und inwiefern bestanden und bestehen Barrieren, Abwehr und Widerstände?
- Inwiefern ist es in sexualpädagogischen Publikationen von Autor*innen, die Mitglieder der gsp waren oder sind, zur Begründung, Bagatellisierung oder Schilderung sexueller/sexualisierter Gewalt gekommen?
Als Fachverband, der mehr als 400 Sexualpädagog*innen zu seiner Mitgliedschaft zählt, sehen wir eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen und daran anknüpfenden Fragestellungen als entscheidende Voraussetzung für eine neuerliche Positionsbestimmung und Weiterentwicklung der eigenen Fachlichkeit an.
März 2025
Verweise:
Amesberger, Helga & Halbmayr, Brigitte (2022): Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und ihre Rolle in der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch pädagogische Professionelle. Endbericht. Wien: Institut für Konfliktforschung. URL: https://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Stellungnahmen/Aufarbeitung/2023.06_Bericht_zum_Umgang_der_DGfE.pdf [zuletzt abgerufen am 11.03.2025].
Baader, Meike Sophia; Böttcher, Nastassia; Ehlke, Carolin; Oppermann, Carolin; Schröder, Julia & Schröer, Wolfgang (2024): Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“. Hildesheim: Universitätsverlag. URL: https://doi.org/10.18442/256 [zuletzt abgerufen am 11.03.2025].
Gesellschaft für Sexualpädagogik (2023): FAQ zu Helmut Kentler (Stand: 27.03.2024). URL: https://gsp-ev.de/wp-content/uploads/2023/04/FAQ_Kentler_V12.pdf [zuletzt abgerufen am 11.03.2025].
Kleinau, Elke & Tervooren, Anja (2024): Einleitung. Erziehungswissenschaft, 68, S. 7-14. URL: https://doi.org/10.3224/ezw.v35i1.02 [zuletzt abgerufen am 11.03.2025].
Windheuser, Jeannette & Buchholz, Vivian (2023): Konzeption und Quellen- und Literaturliste: Die Bedeutung von sexualpädagogischen Vorstellungen für die strukturelle Begünstigung von sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Unter Mitarbeit von Beatrice Kollinger. Berlin: Onlinepublikation der Humboldt-Universität zu Berlin. URL: https://doi.org/10.18452/27054 [zuletzt abgerufen am 11.03.2025].