Kolumne „Aus dem Leben einer Sexualpädagogin“ – Teil 9 von Daniela Hoch2
„Nehmt mal bitte Zettel und Stift heraus, teilt das Blatt durch zwei und malt auf die eine Hälfte einen Penis und eine Vulva mit dem anatomischen Wissen, wie ihr sie mit 12 Jahren gemalt hättet. Wenn Ihr damit fertig seid, malt auf die andere Hälfte des Blattes einen Penis und eine Vulva, wie ihr sie mit eurem heutigen Wissen malen würdet.“ Die Gruppe lacht…Hier sitzen wir, zwischen Anfang 20 und Ende 40 in Deutschland geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich frage: „Was seht Ihr, wenn ihr Eure Bilder anschaut? Gibt es Unterschiede oder Gemeinsamkeiten?
Wir beginnen ein Gespräch, das anfangs amüsant, dann aber zunehmend ernster und nachdenklicher wird. Nur wenige aus der Gruppe konnten im Heute und Jetzt eine anatomisch richtige Vulva malen.
„Große Aufklärungsbedarfe in Flüchtlingsunterkünften!“
„Die Sorge wächst vor steigenden STI-Infektionen durch Geflüchtete.“
„Jemand muss die mal aufklären, die haben ja nie was über ihre Körper gelernt!“
Vor zwei Monaten traf ich mal wieder eine alte Freundin zum Kaffee. Ich kam gerade aus einer amüsanten Schulklassenveranstaltung und ich erzählte ein paar lustige Anekdoten. Angeregt durch meine Erzählungen, berichtete sie mir, dass sie die Unwissenheit der Mädchen gut nachvollziehen kann. Sie selbst habe bis zu ihrem 40. Lebensjahr bei jedem Toilettengang den Tampon gewechselt, da sie davon überzeugt war, es sei unmöglich mit Tampon zu pinkeln.
Sie war davon ausgegangen Urin und Blut kämen aus derselben Körperöffnung. Ich bin nicht überrascht. Von so vielen deutschen emanzipierten Frauen unterschiedlichen Alters habe ich in den letzten Jahren regelmäßig ähnliche, wenn nicht sogar gleiche Geschichten gehört. Wo ist das aufgeklärte Deutschland?
Derzeit gibt es viele Gelder auch für Präventionsarbeit in Flüchtlingsunterkünften.
Grundsätzlich finde ich es toll, dass Gelder für die sexualpädagogische Arbeit mit Erwachsenen bereit gestellt werden. Ich weiß aus meiner Arbeit, dass hier noch viel Wissen vermittelt werden kann. Aber warum gibt es diese Gelder eigentlich immer nur für sogenannte Randgruppen und nicht für die breite Masse? Wer denkt über wen, wer was nötig hat? Ist das Hilfe oder vermeintliche Gefahrenabwehr? An wen wird gedacht, wenn es um sexuell übertragbare Infektionen geht? Die kolonialen Bilder zu den „Fremden“ bleiben sich an dieser Stelle bis heute treu. Die Phantasien über negative Einflüsse, die die Flüchtlinge mitbringen, überschlagen sich. Dabei sollten wir der Realität in die Augen schauen:
Auf den gynäkologischen Stationen in deutschen Krankenhäusern liegen viele verheiratete „monogam“ lebende Frauen, die nicht wissen, woher sie ihren Tripper haben oder junge Mädchen die ihren Eltern schwören, dass die Schwangerschaft nur durch die unbefleckte Empfängnis entstanden sein kann.
„Aber diese Flüchtlinge müssen ja auch erst mal Verhütung lernen…“
Auszüge aus meiner sexualpädagogischen Praxis mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen:
Ich: kann man durch Analverkehr schwanger werden?
Jugendlicher: Joahh!
Ich: Wie klappt das bei Dir mit der Pille? Vergisst Du sie auch mal?
Junge Erwachsene: Nur ein- bis dreimal im Monat. Ist schon besser geworden.
Ich: Welche Verhütungsmittel schützen nicht nur vor ungewollter Schwangerschaft, sondern auch vor sexuell übertragbaren Infektionen und HIV?
Erwachsener aus meiner Fortbildung: Na, das Kondom und die Pille natürlich.
Läuft bei uns…
Unwissenheit ist nicht das Problem „der anderen“. In unserer Gesellschaft ist Sexualität omnipräsent und trotzdem sind Mythen, fehlerhaftes oder Unwissen über elementare Informationen zu Körper und Sexualität weit verbreitet.
Es wird definitiv geflüchtete Menschen geben, die Informationen benötigen, aber es wird auch welche geben, die eine gute Aufklärung in der Schule oder im Elternhaus erlebt haben. Vielleicht waren auch einige sexualpädagogisch tätig. Es gibt nicht prinzipiell die Wissenden, die hier sind und die Unwissenden, die kommen.
Das sollten wir gerade momentan nie vergessen!